2012/06/02

Bodo #023: Hase, ich werde notiert.



Liebes Bodo,

niemand liest dich. Außer manchmal ein paar verlorene Spinner, denen wo langweilig ist. Das ist voll ok, denn im Prinzip sollst du gar nicht unterhalten oder informieren. Du sollst meine Gedankenwelt widerspiegeln, natürlich nur den relativ unverfänglichen Teil, weniger für andere als für mich selber. Deswegen muß ich, wenn ich bei dir bin, auch nich so tun, als wäre ich interessiert an Kunst oder hätte irgendetwas Neues zum Weltgeschehen beizutragen. Letztendlich plappern wir nur das nach, was wo anders gestanden hat und verkaufen das dann als "eigene Meinung". Als ob von uns Normalsterblichen jemand tatsächlich eigene Gedanken zum Thema Weltwirtschaftskrise oder Religionsfreiheit oder Rechtsverdreheung entwickeln könnte ... ohne auf Basis bereits öffentlich gewordener Fremdgedanken zu fußen, fauligen Hirn-Humus wiederzukäun. Unfug, Wunschdenken!

Vielleicht mag ich deswegen Fiktion so gerne. Da kann man gucken ... oder, von mir aus, lesen ... und jeder kann für sich, ohne Einflüsse von außen oder sich vorher anzueignendes, kompliziertes Hintergrundwissen einen Eindruck entwickeln, sich eine "fachliche" Meinung bilden, denn alle gucken ... oder lesen ... die gleiche Geschichte, keiner hat mehr oder weniger Informationen zu verarbeiten, als die Geschichte ihm oder ihr zur Verfügung stellt ... jeder ist "Experte", niemand wird gezwungen, sich diesbezüglich auf Fremdanalysen zu stützen, wenn nicht erwünscht.
Was natürlich trotzdem nicht bedeutet, daß alle "Expertisen" auch tatsächlich ins Schwarze träfen, in Quantität und Qualität einander ebenbürtig wären.

Schwierig wirds, wenn Wirklichkeit und Fiktion sich vermischen, das eine auf dem anderen aufbaut, man sich nicht sicher sein kann, wo das eine beginnt und das andere aufhört.
Dabei spielt es, für mich zumindest, eine wesentliche Rolle, von welchem Ende aus die Vermischung entspringt.
Realität, die sich als Fiktion tarnt? Gibt es sowas überhaupt? Dazu vielleicht ein andermal mehr ... ich bin grade wesentlich intensiver am Gegenteil am Rumrätseln dranne ...
Fiktion, die sich als Realität tarnt.

Es gibt sie in vielen Formen. Einige davon sind in Gänze ungefährlich, da dermaßen überzeichnet und dick aufgetragen, daß schlimmstenfalls kleinen Kindern und krankhaft Naiven zu erläutern ist, wie damit umgegangen werden muß. Sogenannte "Mockumentaries" etwa, die seit geraumer Zeit mein Lieblingsgenre darstellen, gehören in diese Kategorie ... Filmmaterial, welches den Eindruck erweckt, es sei von Privatleuten spontan mit Handkameras eingefangen worden, dabei "hautnah" Szenen von "realen" Exorzismen, Spukhäusern oder amoklaufenden Riesenechsen vermittelt.
Auch das meinen Lebensweg etappenweise begleitende "Professional Wrestling" ist harmlos, obwohl es mitunter explizite Gewalt vortäuscht ... alberne Kostümierung, Daily-Soap-artige Charakterzeichnung und deutlich erkennbar durchchoreographierte Kämpfe mit dramaturgisch relevantem, also unmöglich zufälligem Ausgang fangen vieles an "Schrecken" ab, den man als Zuschauer bei derartigen Stuntshows empfinden könnte, wären diese absichtlich primär darauf ausgerichtet.

"Scripted Reality", oder allgemeiner auch "Doku-Soap" genannt, DAS sind für mich die problematischen Spielerien fiktiver Natur mit der Wirklichkeit. Niemand wird mit Weihwasser gespränkelt oder verhaun ... stattdessen treten "echte" Anwälte und Detektive in handwerklich und inhaltlich haarsträubend abseitigen Fiktivwelten in Aktion, die mit der unseren wenig zu tun haben ... dieses aber nicht durchblicken lassen.
Rund um die Uhr werden wir bombardiert mit gestellten Liebensgeschichten, gestellten Castings, gestellten Gerichtsverhandlungen, sogar gestellter Familientherapie ... reißerisch bis ins Mark, ohne jedweden Sinn für Fine-Tuning oder Selbstreflektion ... die Welt ist ein Bierzelt, die Menschen sind hemmungslos, laut und dumm ... die "Gerechtigkeit" ist schwarz-weiß, die Körpersäfte dafür in nie zuvor wahrgenommener Farbvielfalt abgebildet.
Batman kämpft nicht als einsamer schwarzer Ritter in einer postapokalyptischen Stadt einen nicht zu gewinnenden Verzweiflungskampf gegen das Verbrechen ... nein ... er fährt halbnackt im Batmobil-Cabrio durch die Gegend, telefoniert viel mit seinem Multifunktionshandy und säuft sich von einer Party zur nächsten, wild um sich gröhlend und erbrechend ...
... und schon halten ihn alle für echt.
Batman gibt es wirklich. Glaub mir, ich habs im Fernsehn gesehen. War nix Film, war Doku, isch schwör!

War nix Film, war Doku, isch schwör!

...


Ok, manchmal hält sich jemand für einen üblen Schurken aus der postapokalyptischen Batman-Welt und läuft in einem realen Kino deswegen Amok. Das kommt vor. Schlimm, aber unvermeidbar.

Die Doku-Soap-Geschädigten, die zu Zigtausenden jeden Tag und jede Nacht die scheinbare Realität, die ihnen ein Leben lang vom Fernsehn ins Stammhirn ge(b)rannt worden ist, draußen in den Straßen nachspielen, sind wesentlich gefährlicher ... denn sie haben die Macht, aus der scheinbaren Realität Marke "Scripted Reality" Wirklichkeit zu formen ... bis die Fernsehwelt von heute irgendwann als paradiesisches Utopia angesehen werden kann ..... im Vergleich zur ...... Realität ...............


Ich hab Angst, Bodo.
Aber keiner nimmt mich deswegen ernst.
Die sagen alle, ich wäre bekloppt, mir wegen sowas nen Kopp zu machen.
Wir werden sehn.


Solange wir uns alle darüber einig sind, daß es den Doctor wirklich gibt, bleibt Hoffnung.
Zum Glück besteht hieran kein Zweifel. Nicht der Mindeste.
NICHT, SOLANGE ICH NOCH ATME!


In schwermütige Ventilation vertieft
dein Herrchen

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